Document (#24923)

Author
Janositz, P.
Title
Taube Musiker
Source
Frankfurter Rundschau. Nr.282 vom 4.12.2001, S.B1
Year
2001
Series
Wissens-Wert
Content
"Wer normal hört, kann sich wohl schwer vorstellen, wie taube Menschen eine Welt erleben, die stets von Geräuschen erfüllt ist. Eine riesige, spiegelglatte Wasserfläche, die kein noch so starker Wind in Wallung bringt, könnte eine Analogie sein. Doch gerade dieses Bild wäre falsch, denn Schall breitet sich in Schwingungen aus. Unsere Welt ist voller Schwingungen. Wenn das Hörorgan funktioniert, wird die mechanische Energie der Schallechwingungen in der Hörschnecke des Innenohres in elektrische Reize umgewandelt. Über Nervenleitungen gelangen diese Signale ins Gehirn, wo sie verarbeitet und als Töne registriert werden. Menschen, bei denen dieser Vorgang gestört ist, können schlecht oder gar nicht hören, also auch keine Musik genießen, könnte man meinen. Gehörlosen Kindern Musik vorzuspielen oder gar Musiktherapie zu propagieren, erscheint sinnlos. Doch das ist ein voreiliger Schluss, der nicht die Flexibilität unseres Gehirns berücksichtigt. Denn das Denkorgan verfügt über erstaunliche Fähigkeiten, sich individuellen Anforderungen und den Gegebenheiten der Umwelt anzupassen. Dem noch sehr unvollständigen Bild von der Funktionsweise unseres Gehirns hat der US-Forscher Dean Shibata jetzt einen weiteren Mosaikstein hinzugefügt. Demnach empfinden Menschen, die taub sind, Musik ähnlich wie Personen mit intaktem Gehör. Anscheinend ist es nichtwesentlich, auf welchem Wege die Schallwellen ins Gehirn gelangen. Sie können auch mit Haut und Knochen, die nicht zum Ohr gehören, gefühlt werden. "Die von Musik hervorgerufenen Schwingungen werden bei Tauben in dem Teil des Gehirns verarbeitet, den andere Menschen fürs Hören benutzen", erklärte der Mediziner von der Universität Washington jetzt auf dem Jahrestreffen der Radiologischen Gesellschaft von Nordamerika. Die Informationen, die in Vibrationen stecken, haben demnach denselben Gehalt wie Informationen, die Töne liefern. Gehörlose können sich ebenso wie Hörende an Musik-Darbietungen erfreuen und sogar selbst musizieren. Der Radiologe fand heraus, dass bei gehörlosen Menschen ein zusätzlicher Hirnbereich beteiligt ist, wenn sie Musik empfinden. Es handelt sich um eine etwa golfballgroße Region, die bei Menschen mit Intaktem Gehör passiv bleibt. "Diese Ergebnisse zeigen, wie veränderte Erfahrungen die Organisation des Gehirns beeinflussen können", sagt Shibata. Früher habe man angenommen, dass das Gehirn bei der Geburt praktisch fest verdrahtet sei und dass ein bestimmter Teil immer dieselbe Funktion habe. "Glücklicherweise" - so der Radiologe - bestimmten nicht ausschließlich die Gene die "Verkabelung" des Gehirns. Sie geben nur die Entwicklungsstrategie vor, nach der alle Teile des Gehirns mit maximalem Potenzial benutzt werden können. Shibata plädiert dafür, taube Kinder möglichst früh mit Musik zu konfrontieren, um die entsprechenden Hirnregionen anzuregen. Ähnliches scheint für das Verstehen von Sprache möglich zu sein. Hier gibt es Apparate, die helfen, die Schwingungen gesprochener Töne zu ertasten. Man sollte Kinder damit vertraut machen, solange such ihr Gehirn noch entwickele, rät Shibata."
Field
Kognitionswissenschaft