Document (#26818)

Author
Werber, N.
Title
Blicke in die Black Box : Stefan Rieger erschließt die Mediengeschichte der Wissenschaften vom Menschen
Source
Frankfurter Rundschau. Nr.219 vom 20.9.2001, S.22
Year
2001
Content
"Die Soziologie beobachtet Kommunikationen, nicht Menschen. Seit Jahrzehnten hat es die Systemtheorie wieder und wieder wiederholt: Der Mensch gehört in die Umwelt der Gesellschaft. Körper und Bewusstsein sind kommunikativ nicht zu erreichen. Weder kann man mit den biologischen Operationen des Körpers reden noch mit psychischen Prozessen, man kann sie nur thematisieren. Das Individuum ist in seinem Inneren allein. Dieser Hinweis auf die prinzipielle Differenz organischer, psychischer und sozialer Systeme musste oft dazu dienen, ganze Paradigmen kurzerhand zu erledigen. Der Einwand wurde stets ähnlich formuliert: Die Psychoanalyse etwa behaupte zu unrecht, die Psyche zu analysieren, in Wahrheit interpretiere sie nur sprachliche Äußerungen über, die Psyche; oder jene Literaturwissenschaftler, die behaupteten, ein Text konstituiere sich erst im Akt des Lesens und daher bei jedem Leser neu und anders, machten tatsächlich gar keine Aussagen über diesen konstitutiven Akt der Rezeption, sondern werteten bestenfalls mündliche oder schriftliche Zeugnisse über die Lektüre aus. Wer Dichtung noch als Ichexpression deuten oder kommunikatives Handeln auf das Unbewusste rückbeziehen wollte; macht sich in systemtheoretischer Sicht geradezu lächerlich, denn Ich oder Es, Über-Ich oder Unbewusstes gelten als grundsätzlich unbeobachtbar. Das psychische System ist eine Black Box. Die Soziologie muss sich damit begnügen, Kommunikationen zu beobachten, sonst nichts. So richtig dieses "Unzugänglichkeitsparadigma der Systemtheorie", wie Stefan Rieger es` nennt, auch sein mag, es hat nicht nur Forschungen blockiert, sondern auch stimuliert. Denn die Anthropologie, so Riegers erste These, setzt vor 200 Jahren genau an dieser Black Box an, um deren unkommunizierbaren Inhalt doch zum Gegenstand des Diskurses werden zu lassen. Dies geschieht, und das ist die zweite These, durch den Einsatz von Medien. Die Medientechniken, die Rieger in den Blick nimmt, sind nicht gerade die aus dem Boom der Medienwissenschaften vertrauten wie Schrift und Buchdruck, Fernsehen oder Internet; es sind vielmehr von der Mediengeschichte der Moderne bisher eher vernachlässigte Technologien, die in der Medizin, der Experimentalpsychologie, der Psychiatrie, der Arbeitswissenschaften und der Psychophysik zum Einsatz gekommen sind und die allesamt die Eigenschaft miteinander teilen, nicht nur - wie Radio oder Email - schlicht Reichweite oder Tempo der menschlichen Kommunikation zu erhöhen, sondern den Menschen selbst zu verändern. Damit ist die dritte und zentrale These Riegers formuliert: dass "die historische Ausfaltung von Medien" rückgekoppelt ist an die "Steigerung der Individualität des Individuums".
In der Xenie namens "Sprache" hat Friedrich Schiller Luhmanns Einsicht in die Differenz von Psyche und Kommunikation vorweggenommen: "Warum kann der lebendige Geist dem Geist nicht erscheinen? / Spricht die Seele, so spricht ach! schon die Seele nicht mehr." Die Geister sind einander intransparent. Sobald eine Seele zur anderen zu sprechen versucht, spricht sie als Seele schon nicht mehr, sondern sie kommuniziert.,Bewusstsein ist nicht Kommunikation. Mit dem, was die Seele fühlen mag, haben Worte nicht viel gemein, derselbe Satz mag dem einen dies, dem anderen das bedeuten. Erschwerend kommt hinzu, dass man aufgrund dieser operativen Differenz von Seele und Sprache innere Zustände kommunikativ zu simulieren vermag. Man kann lügen, ohne dass man es der Seele selbst ansehen könnte - aber kann man auch lügen, ohne rot zu werden? Gibt es nicht doch einen Weg, sichere Aussagen über das Bewusstsein zu machen, indem man einen Umweg über den Körper wählt? Dies ist der Weg des humanwissenschaftlichen Medieneinsatzes. Man weiß, dass der individuelle Kern des Menschen der Kommunikation verborgen ist, und arbeitet entsprechend an "Strategien zur Enttarnung von Simulanten". Heerscharen von Experten arbeiten daran, "den Arzt von den Angaben des Patienten unabhängig zu machen" oder vor Gericht Fragen der "Zurechnungsfähigkeit" unabhängig von Behauptungen zweifelsfrei zu klären. Da nicht unbedingt die Seele spricht, wenn jemand Aussagen macht, muss man sie anders zum Sprechen bringen - sonst wären moderne Gerichtsverfahren, Musterungen zum Kriegsdienst, Berufseignungsprüfungen oder Meinungsumfragen unmöglich, denn es gäbe keine Garantien gegen Simulationen. Fritz Giese, einer der Hauptprotagoniten der Studie Riegers, rät 1924, "die potentiellen Täuschungsabsichten von Probanden von vornherein mit einzubeziehen und durch eine kalkulierte Gegensimulation in Aufbau und Anordnung des Experiments zu umgehen. Die Gegensimulation kann ganz einfach in der Verschleierung der Anordnung oder noch raffinierter darin bestehen, daß der Getestete im Unklaren darüber belassen wird, ob er überhaupt Gegenstand einer Testsituation ist."
Man denkt, man nehme an einem Preisausschreiben teil, und ist tatsächlich Teil einer großangelegten Testreihe zur Korrelation von Sozialprofilen, Neigungen und Kaufinteressen. Solche Strategien sind in der Goethezeit noch auf Gesprächs- und Gebärdenprotokolle angewiesen, doch kann die Psychophysik seit 1900 auf Bild- und Tonaufzeichnungen setzen, um über das Optisch- oder Akustisch-Unbewusste ans Innere der Probanden zu gelangen. Durchschnittswerte aller Art werden erstellt, um dann festzustellen, dass jemand in einer bestimmte Situation die Tonhöhe ändert. Filmaufnahmen werden in Zeitlupe abgefahren, um abweichende Gesten oder nervöse Zuckungen sichtbar zu machen, die sonst niemandem aufgefallen wären. Sekundenbruchteile werden Objekte im Tachistoskop sichtbar, die sich der Wahrnehmung entziehen und doch in Traumprotokollen wieder auftauchen. Der Mensch wird von diesen Apparaturen zerlegt, vermessen und berechnet. Das, was abweicht oder stört, macht dann seine Individualität aus. Dieselben Anordnungen dienen der Steigerung des Individuums: Wer in den Testreihen seine positive Abweichung von Durchschnitt offenbart und sich etwa bei Drehversuchen schneller orientiert, wird der Luftwaffe zugeteilt, egal, was er selbst vom Fliegen hält. Sein Schicksal ist Objekt eines positiven Wissens geworden, das über sein Innerstes besser Bescheid weiß als er selbst. Mit der Spezialisierung der modernen Arbeit im Zuge der Industrialisierung und Arbeitsteilung geht eine Spezialisierung des Menschen einher. Körper und Psyche werden erst in Funktionsbereiche zerlegt, um dann ganz partiell trainiert - und das heißt: gesteigert zu werden. Kein "ganzer Mensch" (Schiller) des 18. Jahrhundert hätte Bestand in einem Cockpit, am Fließband, am Telegraphen oder im modernen Krieg. Die technischen Apparaturen der Humanwissenschaften, mit denen der Mensch zerlegt wird, um dann neuen Steigerungen neuer Mensch-Maschine-Kopplungen übergeben zu werden, sind Legion. Mit schier unglaublicher Belesenheit hat Rieger Soziologie, Medienwissenschaft und historischer Anthropologie ein Feld erschlossen, das noch kaum bestellt ist. Diese Habilitationsschrift ist ein großer, inspirierender Wurf."
Footnote
Rez. zu: Rieger, S.: Die Individualität der Medien. Frankfurt 2001
Field
Kommunikationswissenschaften

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