Document (#27421)

Author
Hobson, P.
Title
Wie wir denken lernen : Gehirnentwicklung und die Rolle der Gefühle
Issue
Aus dem Englischen von Christoph Trunk.
Imprint
Düsseldorf : Walter
Year
2003
Pages
267 S
Footnote
Rez. in: Spektrum der Wissenschaft. 2004, H.3, S.99-100 (K. Lehmann): "Noch vor wenigen Jahren konnten sich Gehirnforscher wie Joseph LeDoux und Antonio Damasio etwas darauf zugute halten, ein bis dahin völlig vernachlässigtes Gebiet neu zu erkunden: die Rolle der Gefühle für die menschliche Verhaltenssteuerung. Jahrzehntelang war Kognitionsforschung die Ergründung rationalen Denkens gewesen; Gefühle hatte man als den störenden, irrationalen Sumpf in den Untergrund verbannt. Das hat sich mittlerweile völlig geändert. LeDoux (»Das Netz der Gefühle«) hat Emotionspsychologie und Neurobiologie in Einklang gebracht, Damasio (»Descartes' Irrtum«) dargelegt, dass wir gar nicht anders entscheiden können als »aus dem Bauch heraus«. Und nun geht Peter Hobson daran, unser Denken endgültig und buchstäblich vom Kopf auf die Füße zu stellen: Nur dank der Gefühle sei der Mensch zum symbolischen und kreativen Denken in der Lage. Vom ersten Schrei an strebt ein Kind danach, mit anderen Menschen in Beziehung zu treten. Es sucht Blickkontakt, ahmt nach und erkennt den emotionalen Gesichtsausdruck seines Gegenübers. So entsteht »primäre Intersubjektivität«: ein inniger Einklang und fein abgestimmter emotionaler Austausch zwischen Bezugsperson und Kind. Maßgeblich ist dabei, dass das Kind willens und fähig ist, sich in den anderen einzufühlen. Im Alter von etwa einem Jahr erweitert sich dieser Prozess zur »sekundären Intersubjektivität«: Das Kind sucht den Austausch über etwas Drittes. Es erfasst die Haltung, die ein anderer gegenüber Dingen und Erfahrungen einnimmt - wie die Angst der Mutter vor Schlangen oder die Neigung eines Spielgefährten zu seinem Lieblingsteddy - und kann sie für sein eigenes Verhalten berücksichtigen. Solche »Einstellungen zu etwas« fallen für Hobson unter »Emotionen«, eine Klassifizierung, die gewöhnungsbedürftig, aber durchaus üblich und sinnvoll ist. Wenn das Kind dann begriffen hat, dass es mehrere Perspektiven - zum Beispiel eine eigene und eine fremde - auf dasselbe Ding gibt, und zwischen ihnen wechseln kann, ist es nur noch ein kleiner Schritt dahin, ein Ding mal als es selbst, mal als etwas anderes zu betrachten - also zum Symbolgebrauch. Das Kind nimmt eine Kiste und tut so, als wäre es ein Auto: Es nimmt also gleichzeitig zwei unterschiedliche Haltungen zu der Kiste ein. Nahtlos schließt sich an solches Symbolspiel die höchste Form des Symbolgebrauchs an, die menschliche Sprache. Aus der emotionalen Einfühlung ist rationales Denken geworden.
Wie Hobson diese Theorie entwickelt und anhand zahlreicher Untersuchungen untermauert, ist - trotz einiger Wiederholungen - höchst spannend zu lesen. Hobson ist als Professor für Psychopathologie in London zugleich Experimentalpsychologe, Psychiater und ausgebildeter Psychoanalytiker. Über alle drei Disziplinen hat er sich seit langem dem Phänomen des Autismus angenähert, das ihm für seine Theorie als natürliches Läsionsexperiment dient: Man beobachte, wie sich das Denken bei Menschen entwickelt, denen von Geburt an die Fähigkeit fehlt, andere Menschen als fühlende Wesen zu erfahren. Tatsächlich zeigen autistische Kinder nie Symbolspiel und haben Schwierigkeiten mit dem Sprechenlernen. Ähnliche Störungen bilden sich überdurchschnittlich häufig auch bei blinden Kindern heraus, die ja ebenfalls daran gehindert sind, die Gefühle anderer Menschen und den Gegenstand von deren Aufmerksamkeit wahrzunehmen. Hobsons Theorie kann nicht alle Symptome des Autismus erklären, etwa das stereotype Verhalten und die charakteristi schen Wahrnehmungsstörungen. Man vermisst auch eine Erklärung, warum Autisten, ohne angeblich Symbole verstehen zu können, trotzdem oft sprechen lernen. Aber Autismus ist auch nur ein Nebenthema des vorliegenden Buchs. Leider kommt die Gehirnentwicklung, die der deutsche Verlag vollmundig in den Titel genommen hat, überhaupt nicht vor. Dem Autor ist das nicht vorzuwerfen; das Buch ist, so wie es steht, vollständig. Aber interessiert hätte es einen doch, welche Schäden im Nervensystem so spezifisch diese scheinbar komplexe Fähigkeit, Menschen als Menschen wahrzunehmen, verhindern. Zumal dieses Wissen zugleich aufklären könnte, wie gesunde Menschen diese Leistung vollbringen. Spielen vielleicht die von Vittorio Gallese entdeckten »Spiegelneuronen« eine Rolle, jene Nervenzellen, die gleichermaßen feuern, wenn ein Affe eine Bewegung selbst ausführt, wie wenn er sie beobachtet?
Auf der Einfühlung in Mitmenschen, die ja stets eine Zuschreibung von Eigenschaften und Zuständen ist, basieren verschiedene Begriffe der Philosophie: - Subjektivität: Hobson legt dar, dass ein gesundes Kleinkind Menschen von vornherein als eine Einheit aus Körper und Bewusstsein erlebt und nicht etwa als »Dinge«, von denen es später erfährt, dass sie auch Bewusstsein haben. - der freie Wille, den wir, wie Peter Strawson gezeigt hat (»Freiheit und Übelnehmen«), im menschlichen Umgang notwendig unterstellen, ganz gleich, ob es ihn wirklich gibt, und - die Individualität eines Lebewesens, die es für uns moralisch bedeutsam macht. Andere als Menschen wahrzunehmen und zu behandeln heißt, ihnen Subjektivität, freien Willen, Individualität zuzuschreiben. Es wäre spannend zu ergründen, wie das geschieht. Auch für eine Theorie des Selbst, wie sie Damasio entwickelt hat, könnte Hobsons Theorie relevant sein. Autisten verfügen über ein Selbstkonzept, insofern es um die Repräsentation eines »Ich« in Raum und Zeit geht. Ein reiches, vollwertiges Selbst aber bildet sich erst in den vielfältigen Beziehungen zu anderen Menschen heraus, die Autisten fehlen. Das Selbst, ebenso wie das Denken, ist, wie Hobson betont, keine Eigenschaft des einzelnen Gehirns, sondern ein soziales Phänomen. Es gehört zu den großen Leistungen dieses anregenden Buchs, diesen vernachlässigten Aspekt in das Blickfeld von Gehirnforschern gerückt zu haben. Möglicherweise ist das der neue Trend, der in zehn Jahren ebenso Mode sein wird wie heute die Gefühle."
Field
Kognitionswissenschaft

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