Document (#36055)

Author
Scalla, M.
Title
Auf der Phantom-Spur : Georges Didi-Hubermans neues Standardwerk über Aby Warburg
Source
Frankfurter Rundschau. Nr.3 vom 5.1.2011, S.36
Year
2006
Series
Feuilleton
Content
"Der Bildtheoretiker Georges Didi-Huberman hat sich viel vorgenommen: Er will ein Phantom beschreiben. Wer so etwas beginnt, möchte das flüchtige Wesen am Ende auch zuverlässig dingfest machen. In seiner Studie über den Hamburger Kunstwissenschaftler Aby Warburg leistet Didi-Huberman beeindruckende Rekonstruktionsarbeit - aber am Ende trägt das Phantom den Sieg davon. Didi-Hubermans Buch kann als Standardwerk das bisherige des Warburg-Schülers Erwin Panofsky ablösen, und doch bleibt der einflussreiche Intellektuelle Warburg schwer zu fassen. Warburgs zentrale Begriffe, wie "bewegtes Beiwerk" oder "Pathosformel", wurden in den vergangenen Jahrzehnten häufig zitiert, aber wie es so ist, wenn Wörter und Termini inflationär gebraucht werden, verflüchtigt sich bald der Gehalt - zumal im Falle Warburgs wenig Hemmnisse in Form stabiler Rezeptionsmuster, Werkausgaben oder einer gesicherten Tradierung seiner Grundthesen vorliegen. Immerhin gibt es mittlerweile einen Band mit Warburgs Schriften, der zwar nicht alles, aber das meiste Wichtige enthält (Suhrkamp Verlag). Darüber hinaus besteht Warburgs Werk nach wie vor aus Manuskripten, Notaten, Entwürfen, Essays sowie einem "Mnemosyne"-Atlas mit etwa 1500 Fotografien von Bildern unklarer Anordnung - ein riesiges Archiv für die Nachwelt, die sich einen ganz eigenen Reim auf die jeweiligen Trouvaillen machen kann.
Didi-Huberman liefert eine grundsolide Rekonstruktion von Warburgs Methode der Bildanalyse. Er erklärt, warum dessen kunsttheoretische Arbeiten zur Florentiner Renaissance bereits bei ihrem Erscheinen seit Ende des 19. Jahrhunderts als bahnbrechend galten: Sie erweiterten die Grenzen des Fachs Kunstgeschichte durch eine kulturhistorische Perspektive, als noch tout le monde sich auf eine rein ästhetische Einflusshistorie kaprizierte. Ohne weiteres wird klar, warum Warburg (1866-1929) in den 1990er Jahren, als eine neue Bildwissenschaft und ihr "iconic turn" vollends die Fachgrenzen in Frage stellten und der neumedialen Bildproduktion mit kunsthistorischer Qualifikation zu Leibe rückten, zum Fixstern aufstieg. Walter Benjamin entdeckte in der Welt der Pariser Passagen eine Erscheinung, anhand deren er eine Gesellschaftstheorie wie eine Geschichtsphilosophie entfalten konnte. Aby Warburg versenkte sich in das "bewegte Beiwerk", den Faltenwurf von Gewändern oder die von Windstößen aufgewühlten Haare in den Bildern der frühen Florentiner Renaissance, vor allem in Botticellis "Geburt der Venus" und "Frühling". Didi-Huberman weist detailliert nach, wie Warburg darin zunächst ein konkretes "Nachleben der Antike" in der Renaissance entschlüsselt. Das allein wäre nicht sonderlich überraschend. Den Zeitgenossen müsste jedoch die Einsicht missfallen haben, dass ihre Vorstellung vom Renaissance-Menschen als säkularem, rationalem homo faber nur eine Projektion der eigenen Epoche war.
Warburg mokiert sich über den Reisetypus des "Übermenschen in den Osterferien, mit Zarathustra in der Tasche seines Lodenmantels". Wo ein Nietzscheaner vermutet wurde, residierte ein braver Florentiner Bürger, der in seiner Kapelle zu Gott betete und sich die Glaubensstätte durch qualifizierte Malfachkräfte ausschmücken ließ. Der Autor rekapituliert philologisch die Begriffe, auf die sich Warburgs Denken fokussieren lässt: Nachleben, Dynamogramm, Einfühlung, Pathosformel. Das Phantom gewinnt Konturen. Der Begriff Nachleben etwa bezeichnet hier eben nicht nur ein Bildmotiv, eine Geste, die früher schon einmal da war, eine Zeit lang verschwand, und auf einmal in den Kunstwerken wiederkehrt - wie es innerhalb der bürgerlich-linearen, an einem Fortschrittsbegriff orientierten Geschichtsmodelle interpretiert wurde: "Nachleben bedeutet für ihn nichts anderes als eine Erhöhung der Komplexität geschichtlicher Zeit, die Wahrnehmung spezifischer, nichtnatürlicher Zeiten in der Welt der Kultur." Diese Komplexität versucht Didi-Huberman durch Wendungen wie "Verschlingung", "wimmelnder Schlangenhaufen" oder "Dynamographie verschlungener Polaritäten" auszudrücken. Das klingt nach französischem Begriffszauber - auch die notorischen Rhizome arbeiten sich hier wieder durch den Text -, doch durch den Wirbel hindurch gelingt ein erkenntnisfördernder Blick auf ein heute noch faszinierendes Werk. Wenige Kunsthistoriker haben vergleichbar die sinnliche Dimension von Gemälden zu erspüren und erfassen gesucht. Für eine Zeit, die vom menschlichen Körper fasziniert, zuweilen sogar besessen ist, sind Warburgs Texte ein einzigartiger Bezugspunkt. Wenn am Ende dem Phantom Warburg der Sieg über den Interpreten Didi-Huberman gelingt, liegt das am "Bildhintergrund". Der zeithistorische Hintergrund verblasst nämlich in diesem Buch, die Lage des deutschen Bürgertums vor dem Ersten Weltkrieg oder in der jungen Weimarer Republik tritt nur schemenhaft zutage. So bleiben die Konturen unscharf, und das Phantom kann weiter durch die Zeiten geistern."
Footnote
Vgl.: http://www.fr-online.de/kultur/literatur/auf-der-phantom-spur/-/1472266/5062826/-/index.html. Besprechungsaufsatz zu: Didi-Huberman, Georges: Das Nachleben der Bilder: Kunstgeschichte und Phantomzeit nach Aby Warburg. Frankfurt: Suhrkamp 2010.
Theme
Bilder
Field
Kunst

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