Document (#27310)

Author
Fugmann, R.
Title
¬Das Faule Ei des Kolumbus in der Informationsbereitstellung
Source
Information - Wissenschaft und Praxis. 55(2004) H.2, S.72
Year
2004
Content
"Ein Memorandum wider den Zeitgeist auf diesem Gebiet gerichtet an all Diejenigen, - welche über die Gestaltung von Informationsdiensten zu entscheiden haben oder - denen eine Argumentationshilfe für den Widerstand gegen den Druck von automatisierten Billigsystemen willkommen ist. Das Aufsuchen und die Wiederverwertung von Erfahrungen und Wissen ist lebensnotwendig für jeden Menschen und ist Vorbedingung für das Prosperieren einer jeglichen Tätigkeit eigener oder gemeinschaftlicher Art und sogar für deren gesicherten Fortbestand. Schon seit Jahrhunderten sind die Bibliotheken Dienstleister mit dieser Aufgabenstellung gewesen. Ein großer Fundus an Wissen und Erfahrungen ist auf diesem Gebiet bereits erarbeitet worden. In der Neuzeit haben die computerisierten Datenbanken große Fortschritte bei der Erfassung und beim Wiederfinden von wertvoller Information ermöglicht. Auf der Suche nach Information zu einem bestimmten Thema formuliert man Wörter oder Wortstämme, von denen man im Voraus weiß oder vermutet, dass sie in den gewünschten Texten auftreten. Ein solcher Ansatz erscheint wegen seiner Automatisierbarkeit und wegen seiner relativ geringen Kosten manch einem Neuling als das Ei des Kolumbus, insbesondere auch deswegen, weil hier die aufwändige Vorbereitung der Texte für die Einspeicherung wegfällt.
Zahlreiche Anbieter und Forschungsgruppen propagieren diese Art der Informationssuche, dies in Unkenntnis oder in Verdrängung der Tatsache, dass auf diesem Weg fast immer nur ein kleiner Bruchteil all dessen auffindbar ist, woran ein Fragesteller interessiert ist. Der Grund hierfür liegt darin, dass es dem Fragesteller meistens nicht bekannt ist, auf welche Weise die Autoren von einschlägigen Texten das Thema des Fragestellers ausgedrückt haben könnten, es sei denn, der Fragesteller erinnert sich noch an die Wortlaute von thematisch einschlägigen Texten oder es gelingen ihm glückliche Treffer durch entsprechende Vermutungen. Obendrein ist in den Datenbanken immer nur ein kleiner Bruchteil von all dem gespeichert, was für einen Fragesteller von Interesse ist. Die Zufallstreffer, welche auf diesem Weg erzielbar sind, täuschen darüber hinweg, dass dem Fragesteller sehr Vieles entgeht, was für ihn interessant und wichtig ist. Entsprechend hoch ist zugleich auch der Schaden, welcher durch das Arbeiten unter einem Informationsdefizit dieses Ausmaßes eintritt. Schäden in Milliardenhöhe, bedingt durch vermeidbare Unkenntnis, sind in der Wirtschaft schon eingetreten. Oftmals ist bei einer solchen Suchstrategie obendrein der Ballast an nicht Zutreffendem so groß, dass die Suchergebnisse wertlos sind. Dies liegt großenteils an der Vieldeutigkeit der meisten Wörter unserer Sprache. Kaum ein Fragesteller ist bereit, unter Tausenden von Ballast-Antworten die wenigen wirklich zutreffenden Antworten aufzusuchen. Die Anbieter einer solchen, "modern" erscheinenden Textwörter-Suchstrategie und viele Forschungsgruppen auf diesem Gebiet wissen meistens nicht, dass für die Lösung dieses Recherchenproblems längst erforschte und bewährte Wege bekannt sind, erarbeitet in der traditionellen Bibliotheks- und Informationswissenschaft. Es handelt sich allerdings um Wege, welche wegen der teilweise indeterminierten Natur einer jeden wohlverstandenen Informationsbereitstellung nicht befriedigend programmierbar sind, deshalb in der Informationstechnologie jahrzehntelang keine Beachtung gefunden haben und von derselben erst in der Neuzeit nach und nach wieder entdeckt werden, in einer Periode vom fortdauernden "re-inventing the wheel" und des fortgesetzten Anbietens von "old wine in new bottles". Bei derjenigen Art von Informationssuche, welche heutzutage so stark in den Vordergrund gedrängt wird, handelt es sich nämlich nur um den Trivialfall der Erinnerungsrecherche (question of recall). Sie basiert darauf, dass der Fragesteller einige verbale Details des Gesuchten bereits kennt oder vermuten kann.
Diese Suchstrategie versagt im Fall von Entdeckungsrecherchen (question of discovery), dann also, wenn man sich auf der Suche nach Unbekanntem befindet, wie es auf den Gebieten von Forschung und Entwicklung in der Praxis der Regelfall ist. Das Gesuchte kann auf unbegrenzt vielfältige Weise von den Autoren einschlägiger Texte ausgedrückt worden sein. Es entzieht sich damit der Textwörtersuche, denn man kann nicht unbegrenzt viele Textwörter und Kombinationen von ihnen zur Suchbedingung machen. Den größten Schaden richtet eine solche Suchstrategie dort an, wo sie auch für die Dienste eines hausinternen Intranet eingesetzt wird, dort also, wo es vorrangig auf hochgradige Vollständigkeit der Suchergebnisse ankommt und wo man sich nicht allein auf die Erinnerung an Verfassernamen oder an Ort- und Zeitdaten von Dokumenten stützen kann und darf. Mangelt es an Erfahrung oder an Weitblick, dann stellen sich die Unzulänglichkeiten der Textwörtersuche erst dann heraus, wenn man einige Zeit mit derselben praktisch gearbeitet hat. Dann wird dem Anwender klar, dass es sich bei all dem, worauf er so sehr vertraut hat, und was in der Erinnerungsrecherche auch meistens gut funktioniert, in Wirklichkeit um ein faules Kolumbus-Ei gehandelt hat, um ein Produkt von trügerisch positivem Anschein also, jedoch mit versteckten, erst spät in Erscheinung tretenden Mängeln. Die immensen "Kooperationsschwierigkeiten', welche heutzutage zwischen Anbietern und Anwendern bestehen, dürften großenteils auf die unerfüllbaren Versprechungen von unseriösen Anbietern zurückzuführen sein oder auf die Illusionen von Forschungsgruppen, welche sich im Zustand einer geradezu skandalösen Ignoranz auf dem Informationsgebiet bewegen, mögen sie auch die InformationsTechnologie brilliant beherrschen. Nicht nur ist der Schaden bei dem getäuschten und enttäuschten Anwender groß, sondern es ist auch die ganze Branche der professionellen Informationsexperten gefährdet. Den Anwendern werden verführerisch billige automatisierte Techniken zum Kauf angeboten, bei denen vermeintlich auf die sachverständige Mitwirkung des Informationsexperten verzichtet werden kann. Dass die Brauchbarkeit dieser Produkte auf den Typ der Erinnerungsrecherche beschränkt ist, wird verkannt, verdrängt oder von der Werbung bewusst verschwiegen. Eine effektive und wettbewerbsfähige Arbeit auf jeglichem Gebiet kann es nur dort geben, wo sich auch das Management des (nicht quantifizierbaren) Nutzens von treffsicher und prompt bereitgestellter Information bewusst ist und hierfür auch zu investieren bereit ist, dies nicht nur in Computertechnologie, sondern auch in sachkundiges und geschultes Personal. Bei Fortdauer dieser Entwicklung werden immer mehr Informationssuchende im Zustand eines fortgesetzt wachsenden Informationsdefizits zu arbeiten gezwungen sein, sehr zu ihrem Schaden und zum Schaden der Gemeinschaft, in welcher sie sich befinden. Dies wäre durch die bessere Nutzung des Wissens und der Erfahrungen aus der traditionellen Informationsbereitstellung vermeidbar."

Similar documents (author)

  1. Fugmann, R.: ¬Die Aufgabenteilung zwischen Wortschatz und Grammatik in einer Indexsprache (1979) 4.70
    4.7015624 = sum of:
      4.7015624 = weight(author_txt:fugmann in 3) [ClassicSimilarity], result of:
        4.7015624 = fieldWeight in 3, product of:
          1.0 = tf(freq=1.0), with freq of:
            1.0 = termFreq=1.0
          7.5225 = idf(docFreq=64, maxDocs=44218)
          0.625 = fieldNorm(doc=3)
    
  2. Fugmann, R.: Theoretische Grundlagen der Indexierungspraxis (1985) 4.70
    4.7015624 = sum of:
      4.7015624 = weight(author_txt:fugmann in 280) [ClassicSimilarity], result of:
        4.7015624 = fieldWeight in 280, product of:
          1.0 = tf(freq=1.0), with freq of:
            1.0 = termFreq=1.0
          7.5225 = idf(docFreq=64, maxDocs=44218)
          0.625 = fieldNorm(doc=280)
    
  3. Fugmann, R.: DIN 31623 oder die Problematik des genormten Indexierens (1979) 4.70
    4.7015624 = sum of:
      4.7015624 = weight(author_txt:fugmann in 991) [ClassicSimilarity], result of:
        4.7015624 = fieldWeight in 991, product of:
          1.0 = tf(freq=1.0), with freq of:
            1.0 = termFreq=1.0
          7.5225 = idf(docFreq=64, maxDocs=44218)
          0.625 = fieldNorm(doc=991)
    
  4. Fugmann, R.: ¬The complementarity of natural and indexing languages (1982) 4.70
    4.7015624 = sum of:
      4.7015624 = weight(author_txt:fugmann in 1008) [ClassicSimilarity], result of:
        4.7015624 = fieldWeight in 1008, product of:
          1.0 = tf(freq=1.0), with freq of:
            1.0 = termFreq=1.0
          7.5225 = idf(docFreq=64, maxDocs=44218)
          0.625 = fieldNorm(doc=1008)
    
  5. Fugmann, R.: Natursprache versus Indexsprache in der Chemie-Dokumentation (1982) 4.70
    4.7015624 = sum of:
      4.7015624 = weight(author_txt:fugmann in 1184) [ClassicSimilarity], result of:
        4.7015624 = fieldWeight in 1184, product of:
          1.0 = tf(freq=1.0), with freq of:
            1.0 = termFreq=1.0
          7.5225 = idf(docFreq=64, maxDocs=44218)
          0.625 = fieldNorm(doc=1184)
    

Similar documents (content)

  1. Hauer, M.: Elektronische Informationsbereitstellung auf dem Vormarsch : First! - die individuelle Tageszeitung (1994) 2.94
    2.9357195 = sum of:
      2.9357195 = weight(title_txt:informationsbereitstellung in 115) [ClassicSimilarity], result of:
        2.9357195 = fieldWeight in 115, product of:
          1.0 = tf(freq=1.0), with freq of:
            1.0 = termFreq=1.0
          9.394302 = idf(docFreq=9, maxDocs=44218)
          0.3125 = fieldNorm(doc=115)
    
  2. Hauer, M.: Elektronische Informationsbereitstellung auf dem Vormarsch : First! - die individuelle Tageszeitung (1995) 2.94
    2.9357195 = sum of:
      2.9357195 = weight(title_txt:informationsbereitstellung in 2098) [ClassicSimilarity], result of:
        2.9357195 = fieldWeight in 2098, product of:
          1.0 = tf(freq=1.0), with freq of:
            1.0 = termFreq=1.0
          9.394302 = idf(docFreq=9, maxDocs=44218)
          0.3125 = fieldNorm(doc=2098)
    
  3. Rusch-Feja, D.: Digital libraries : Informationsform der Zukunft für die Informationsversorgung und Informationsbereitstellung? (1999) 2.94
    2.9357195 = sum of:
      2.9357195 = weight(title_txt:informationsbereitstellung in 5010) [ClassicSimilarity], result of:
        2.9357195 = fieldWeight in 5010, product of:
          1.0 = tf(freq=1.0), with freq of:
            1.0 = termFreq=1.0
          9.394302 = idf(docFreq=9, maxDocs=44218)
          0.3125 = fieldNorm(doc=5010)
    
  4. Rusch-Feja, D.: Digital libraries : Informationsform der Zukunft für die Informationsversorgung und Informationsbereitstellung? (1999) 2.94
    2.9357195 = sum of:
      2.9357195 = weight(title_txt:informationsbereitstellung in 5013) [ClassicSimilarity], result of:
        2.9357195 = fieldWeight in 5013, product of:
          1.0 = tf(freq=1.0), with freq of:
            1.0 = termFreq=1.0
          9.394302 = idf(docFreq=9, maxDocs=44218)
          0.3125 = fieldNorm(doc=5013)
    
  5. Rusch-Feja, D.: Digital libraries : Informationsform der Zukunft für die Informationsversorgung und Informationsbereitstellung? (1999) 2.94
    2.9357195 = sum of:
      2.9357195 = weight(title_txt:informationsbereitstellung in 5014) [ClassicSimilarity], result of:
        2.9357195 = fieldWeight in 5014, product of:
          1.0 = tf(freq=1.0), with freq of:
            1.0 = termFreq=1.0
          9.394302 = idf(docFreq=9, maxDocs=44218)
          0.3125 = fieldNorm(doc=5014)