Document (#30255)

Author
Jantschek, T.
Title
¬Die Natur des Universums begreifen : Der Sprachphilosoph John R. Searle verteidigt den Common Sense-Realismus
Source
Frankfurter Rundschau. Nr.167 vom 21.7.2001, S.20
Year
2001
Content
"Lange Jahre durfte sich vor allem die analytische Philosophie zumindest in einer Hinsicht als eine völlig normale Wissenschaft wähnen: Die Studien und Monographien, die sie als Ergebnis ihres Forschens hervorbrachte, glichen jenen der harten Wissenschaften darin, dass sie sich auf immer kleinteiligere Untersuchungsgegenstände richteten. Statt die Wissenschaft vom Allgemeinen zu sein, bestand die Philosophie - und besteht vielfach noch immer - in so präzisen wie terminologisch verzwickten endoskopischen Untersuchungen im Körper der Sprache und der Logik. Wahrheit und Welt, Bewusstsein und Identität wurden kubikmillimeterweise analysiert. Dann plötzlich wartete Robert Brandom mit einem Theoriemonolithen auf (Expressive Vernunft, Suhrkamp 2000), von dem die Faszination ausging, auf präziseste Weise vom nebulösen Ganzen zu handeln, in dem alles mit allem zusammenhängt. Dass die analytische Philosophie nach den längst vergessenen Visionen der Einheitswissenschaft oder unified theory" wieder nach geschlossenen Denksystemen Ausschau hält, ist das Erstaunliche dieser Entwicklung. Und Brandoms Theorie steht längst nicht mehr allein. In seinem jüngsten Buch Geist, Sprache und Gesellschaft bekräftigt auch John R. Searle, er wolle ,nicht nur eine Reihe unterschiedlicher Phänomene erklären, sondern auch zeigen, wie sie alle miteinander zusammenhängen". Fortschritte in Richtung einer adäquaten allgemeinen Theorie" gelte es zu machen. Obwohl Searles schmales Büchlein eher von einführendem Charakter ist, kokettiert es doch stets damit, die einzig wahren und unmittelbar einleuchtenden Verbindungen zwischen dem, was in Searles früheren Büchern en detail dargelegt wurde, also vor allem von Sprachphilosophie und Philosophie des Geistes, zu stiften. So wenig sich diese kleine Abhandlung mit Brandoms Opus magnum der Facon nach vergleichen lässt, so sehr verlangt sie nach inhaltlicher Gegenüberstellung, betrachtet man sich nur einmal genauer die erkenntnistheoretische Perspektive, die beide Autoren einnehmen. Searle legt die Karten von Beginn an auf den Tisch: "Ich teile die Aufklärungsvision. Ich denke, dass das Universum völlig unabhängig vom menschlichen Geist existiert, und dass wir - im Rahmen der Grenzen, die uns durch unsere evolutionäre Ausstattung gesetzt sind - dazu gelangen können, die Natur des Universums zu begreifen." Searle vertritt dabei einen kruden externen Realismus. Feindbild ist jede Form des Perspektivismus, in welchem Welt und Sprache nicht voneinander zu trennen sind.
Nach Searles Verständnis sitzt in diesem Boot eine überaus illustre Crew, die von Immanuel Kant bis Jürgen Habermas oder Robert Brandom, von Bischoff Berkeley bis hin zu Ludwig Wittgenstein oder Jacques Derrida reicht. Während nämlich die meisten zeitgenössischen Erkenntnistheorien von einem immer schon durch die Sprache imprägnierten Verständnis der Welt und der Erfahrung ausgehen, verklammert für Searle eine von jeglicher menschlichen Perspektive unabhängige Außenwelt Sprache und Geist, Wahrheit und Objektivität. ,Wenn eine Feststellung wahr ist, muss es eine Tatsache geben, dank der sie wahr ist. Tatsachen haben es mit dem zu tun, was existiert; sie gehören zur Ontologie." Zwar ist für Searle auch der Geist Teil der objektiven Welt ("Bewusstsein ist ein biologisches Phänomen wie jedes andere"), erweist sich aber doch als nicht einfach auf Materielles reduzierbar. Dem erkennenden Bewusstsein obliegt es, Welt zu repräsentieren, und der Sprache, diese Repräsentation auszudrücken. Selbstredend ist es die Wirklichkeit, auf die Searle im Kern seiner Analyse dieses Gerichtetseins des Bewusstseins auf Welt - in der Philosophie Intentionalität genannt - zurückgreift. Denn sie stiftet die grundlegenden Gehalte menschlicher Überzeugungen oder Meinungen, und legt so auch die Bedeutungen der Sätze fest, mit denen man Wissen oder Überzeugungen ausdrückt. Die gesellschaftliche Wirklichkeit erschließt Searle von der Fähigkeit kollektiver Intentionalität, also gemeinsam Institutionen wie Geld oder Gesetze zu etablieren und anzuerkennen. Im Gegensatz zur Beobachter-unabhängigen Welt sind diese Wirklichkeiten jedoch naturgemäß relativ zu den Wesen (bei Searle Menschen und höhere Tiere), die sie hervorbringen. In Searles Theorie kommt Normativität erst auf dieser Entwicklungsstufe ins Spiel. Bei Brandom ist Normativität von Anfang an im Spiel. Dass man überhaupt Welt in einem nichttrivialen Sinne durch Sprache zur Verfügung hat, wurzelt nach Brandorn in nichts anderem als sozialer, immer schon norinativ aufgeladener Interaktion. Und dass es überhaupt so etwas wie Objektivität und Wahrheit gibt, liegt nicht an einer Welt, die unsere Behauptungen direkt wahr machen könnte, sondern an der Stabilität der sprachlichen Instrumente, mit denen die Welt wie mit einem Blindenstock abgetastet wird.
Einen unmittelbaren Kontakt hat das erkennende Subjekt zwar nur mit dem Griff des Stocks, doch, so Brandom: der direkte Kontakt am Griff schafft einen echten indirekten Kontakt zum anderen Ende. Und je stabiler der Stock..., desto besser werden die Einzelheiten darüber, was sich dort befindet, auf den Griff übertragen." Wo Searle die Fäden von Wahrheit und Objektivität, Sprache und Geist zu einem Tau zusammendreht, um es wie mit einem Pflock in die Welt einzuschlagen, da breitet Brandorn ein schmiegsames Begriffsgewebe über ihr aus. Während Brandoms Theorie von einer völlig unproblematisehen theoretischen Basis, dem alltäglichen Geben und Verlangen von Gründen im Gespräch, ausgeht, setzt Searle in bester hemdsärmliger Common Sense-Manier auf eine externe Wirklichkeit, deren Unbeweisbarkeit schon für Kant schlechthin den Skandal der Philosophie" ausmachte. Searle indes glaubt, hier nichts beweisen zu müssen, versteht er doch seinen Realismus nicht als eine Theorie unter anderen, sondern als alltägliche Einstellung, mit der wir der Welt gegenübertreten, als "Rahmen, dessen es bedarf, um überhaupt eine Theorie haben zu können". Gerade im Blick auf Brandorn jedoch enthüllt sich, dass der externe Realismus selbstverständlich eine Theorie ist, die unsere normale natürlich realistische" Einstellung erklärt. Und sie konkurriert mit anderen Theorien, mögen diese nun realistisch genannt werden oder idealistisch. Dass es gerade eine nach Searles Feindbild idealistische, das heißt perspektivistisehe Theorie wie die von Brandom ist, die den Alltagsrealismus erklären kann, ohne auf eine solch letztlich metaphysisch belastete Instanz wie die externe Wirklichkeit zurückzugreifen, macht sie überaus verführerisch. Denn vielleicht hatte Wittgenstein doch damit recht, dass sich der Wert einer Erkenntnis an den Beulen bemisst, die man sich beim Anrennen gegen die Grenzen der Sprache holt. Womöglich sind nämlich nur sie es, durch die "die wahre Wirklichkeit" spürbar wird."
Footnote
Rezension zu: Searle, J.R.: Geist, Sprache und Gesellschaft. FRankfurt: Suhrkamp 2001
Field
Philosophie
Sprachwissenschaft

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