Document (#30314)

Author
Springer, M.
Title
Ist das Gehirn ein Quantencomputer?
Source
Spektrum der Wissenschaft. 2006, H.6, S.28
Year
2006
Series
Springers Einwürfe
Content
"Die unscheinbare graue Grütze im Schädel spiegelt jedem von uns eine private Welt vor, deren sinnlicher Reichtum noch das kühnste Multiversum übertrifft, das ein Kosmologe sich auszudenken vermag. Irgendwie bringt die feuchte, lauwarme Masse es fertig, uns das letztlich unbeschreibliche Erleben von Farben, Tönen und Gerüchen, von Schmerzen und Stimmungen zu bescheren. Nur wie? Das ist die berüchtigte Erklärungslücke der Bewusstseinsforschung. Manche sehen darin ein Scheinproblem, andere ein unlösbares Rätsel, und wieder andere mühen sich um einen Brückenschlag zwischen objektiver Hirntätigkeit und subjektiven »Qualia«. Einige Brückenbauer suchen dabei ihr Heil in der Quantenphysik. In der Tat haben Bewusstseins- und Quantenphänomene auf den ersten Blick etwas Entscheidendes gemeinsam: Beide sind »holistisch«. Qualia werden als Ganzheiten erlebt, nicht als Stückwerk verschiedener Sinnesdaten. Analog lassen sich typische Quantenzustände - anders als klassische Mehrteilchensysteme - nicht als bloße Summe der Zustände der beteiligten Partikel beschreiben, weshalb Physiker sie als nichtlokal, kohärent oder verschränkt bezeichnen. Außerdem sah es zumindest anfangs so aus, als enthalte die Quantentheorie eine subjektive Komponente. Gemäß der Kopenhagener Deutung hat es keinen Sinn, von der Existenz einer Teilcheneigenschaft zu sprechen, bevor sie beobachtet wird. Einige Interpreten gingen sogar so weit, unter Beobachtung nicht die Wechselwirkung zwischen Quantenobjekt und Messgerät zu verstehen, sondern den Eintritt des Messresultats ins Bewusstsein des Beobachters. Diese vagen Analogien nährten die Hoffnung, mit überlagerten Quantenzuständen die Erklärungslücke der Hirnforschung schließen zu können. Prominentester Hoffnungsträger ist dabei der Mathematiker und Gravitationstheoretiker Roger Penrose. Seiner Überzeugung nach wird eine künftigeTheorie der Quantengravitation nicht nur das Messproblem der Quantenmechanik lösen, sondern auch eine Physik des Bewusstseins begründen. So allgemein hat diese Idee einen gewissen Charme. Die Synthese von Quantenphysik und Gravitationstheorie wird derzeit in so abstrakten Gebilden gesucht wie Strings oder Loop-Quanten, und wer wollte ausschließen, dass bei dieser großen Vereinigung auch etwas für die Bewusstseinsforschung abfällt. Doch hat sich Penrose von dem Anästhesisten Stuart Hameroff einreden lassen, in den Mikrotubuli, langen Röhrenmolekülen im Zellskelett, den Sitz des Quantenbewusstseins zu vermuten. Das war ein Fehler. Über die noch nicht existente Quantengravitation lässt sich trefflich spekulieren, und Penrose gilt als Fachmann beim Skizzieren ihrer möglichen Umrisse. In den Niederungen der konkreten Hirnforschung dagegen ist er blutiger Laie. Und so fing er sich denn auch jetzt eine volle Breitseite des Hirnforschers Christof Koch ein, der in einem Beitrag in »Nature« (Bd. 440, S. 611) die Schwachpunkte in den kühnen Gedankenflügen des Mathematikers bloßstellt. Die Effekte der Quantenmechanik machen sich in aller Regel nur im submikroskopischen Bereich bemerkbar. Zudem sind kohärente Mehrteilchenzustände extrem störanfällig, sodass sie sich bisher lediglich mit wenigen Partikeln oder bei extrem tiefen Temperaturen erzeugen ließen. Zellmoleküle haben im Vergleich dazu, so Koch, riesige Ausmaße. Obendrein ist das Gehirn bei seiner Betriebstemperatur-300 Grad über absolut null -für nutzbare Quanteneffekte viel zu heiß. Obwohl ich gelernter Physiker und Penrose als Übersetzer seines Buchs »Computerdenken« durchaus gewogen bin, muss ich mich dieser Argumentation beugen. Die Erklärungslücke wird sich wohl nicht »da unten«, auf der Mikroebene der Quantenwelt, schließen, sondern klafft »hier oben«, auf dem makroskopischen Niveau neuronaler Netze. Wir müssen uns eben damit abfinden, dass unsere elementarsten Erlebnisse Produkt der komplexesten Prozesse überhaupt sind."
Field
Kognitionswissenschaft

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