Jeanneney, J.-N.; Meister, M.: ¬Ein Kind der kommerziellen Logik : Der Präsident der Pariser Bibliothèque Nationale de France, Jean-Noël Jeanneney, über "Google print" und eine virtuelle, europäische Bibliothek (2005)
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- "Frankfurter Rundschau: Monsieur Jeanneney, Sie wollen "Google Print" eine virtuelle, europäische Bibliothek entgegen setzen. Ist das der Beginn eines neuen Kalten Krieges, eines Krieges der Ideen? Jean-Noel Jeanneney: Wenn es antiamerikanisch ist, Google nicht das Monopol zu überlassen, dann will ich gerne antiamerikanisch sein. Was ich im Übrigen natürlich nicht bin, denn ich mag Amerika sehr. Aber es ist ein Land, das in vielerlei Hinsicht anders ist als Europa. Die Amerikaner wissen selbst am besten, dass jede Form von Monopol gefährlich ist. Monopole laufen Gefahr, unterzugehen. Sie können keinesfalls Dauerhaftigkeit und Fortbestand garantieren. Es ist vor allem dem Widerstand der amerikanischen Verlegervereinigung zu verdanken, dass Google auf die Bremse getreten ist und sein Projekt für ein paar Monate auf Eis gelegt hat. Wir haben es nicht mit einem Kalten Krieg zu tun, sondern um ein Interesse des gesamten Planeten und insbesondere der USA, die Digitalisierung des Kulturerbes auf multikultureller Basis zu betreiben. Es geht nicht darum, Europa gegen die USA zu stellen, sondern ein komplementäres System aufzubauen, an dem auch Indien, China und die arabische Welt teilhaben. Wo sehen sie die Gefahr von "Google Print"? Ich sehe insgesamt drei Gefahren, zwei kurzfristige und eine langfristige. Letztere betrifft den Fortbestand. Sollte Google alleiniger Eigentümer dieser Meta-Bibliothek sein, wie ich sie nenne, was geschieht dann eigentlich, wenn Google verschwindet? Einzig und allein Staatsgebilde können langfristig den Fortbestand garantieren. Nehmen Sie die Bibliotheque Nationale de France. Die Staaten müssen sich folglich einmischen und versuchen, diesem rein am Kapital orientierten Projekt einen längeren Atem einzuhauchen, den Atem von mehreren Generationen. Und wo sehen Sie die kurzfristigen Gefahren? Wissen und Kulturerbe müssen organisiert, das Angebot hierarchisiert werden. Es muss in diesem Labyrinth des Wissens einen Ariadnefaden geben, der einen ans richtige Ziel bringt. Die zweite kurzfristige Gefahr ist die angloamerikanische Dominanz, die Tatsache also, dass die Trefferliste vor allem englische Texte anzeigen wird oder solche, die aus angloamerikanischen Blickwinkel ausgewählt wurden. Was passiert, wenn ich in "Google Print" etwa nach Goethe oder Schiller suche? Die ersten zehn Bücher sind mit großer Wahrscheinlichkeit auf Englisch. Bei Victor Hugo stoßen sie nicht auf L'homme qui rit, sondern The man who laughs, was nicht sehr komisch ist, selbst wenn man sich für Übersetzungen interessiert. Ich verlange ja kein Monopolfür unseren Blick, ich will nur, dass er nicht untergeht. Ist die Logik von "Google Print" tatsächlich rein kommerziell? Selbstverständlich. Sie wollen doch Geld da mit verdienen. Nur verstehen sie es auf geradezu phantastische Weise ihre materiellen Interessen in ein moralisches Deckmäntelchen zu kleiden. "Wir organisieren ihnen die Information der Welt": Das ist messianisch, wunderbar, aber ich wünschte mir, wir blieben mehrere, die dieses Wissen organisieren. Es ist doch ganz einfach: Google wird an der Börse gehandelt und die Investoren verlangen, dass Gewinne abgeworfen werden. "Google Print" ist ein Kind der kapitalistischen Logik. Diese unternehmerische Logik schockiert mich nicht, sie ist großartig. Aber ich lehne ab, dass sie alles bestimmt. Ich glaube nicht an die Heiligsprechung des Marktes. Sie ist in vielen Bereichen gefährlich.
Nun tritt die schwerfällige europäische Maschinerie gegen eine amerikanische Firma an. Ist die Schlacht, mit Verlaub, nicht von vornherein verloren? Überhaupt nicht! Zumal es doch nicht um viel Geld geht. Google rechnet mit einem Budget von 150 Millionen Dollar. Meiner Ansicht nach ist das zu wenig. Aber selbst wenn es 300 Millionen wären. In Paris wird dieser Tage das Grand Palais wieder eröffnet, dessen Restaurierung allein 200 Millionen Euro gekostet hat. 23 EU Staaten haben ihre Unterstützung zugesichert. Aber ehe sich die Brüssler Maschinerie in Bewegung setzt, wird "Google Print"den Europäern doch schon davongelaufen sein... Moment einmal, wir fangen doch nicht bei Null an. ln Frankreich gibt es das Projekt Gallica. Jährlich stecken wir zwei Millionen Euro in Digitalisierung, Millionen von Nutzern konsultieren monatlich diese virtuelle Bibliothek und in anderen Ländern gibt es ähnliche Projekte. Außerdem sind die Verantwortlichen in Brüssel wachgerüttelt wor-den. Wir müssen jetzt allerdings einen Gang höher schalten. Wie groß ist das Budget, das Ihnen in Ihren kühnsten Träumen vorschwebt? 400 Millionen Euro, verteilt auf drei, Jahre, finanziert aus Brüssel und den einzelnen Ländern, das wäre ein guter Anfang. Das Haupthindernis im Augenblick sind die Urheberrechte. Was macht man mit Büchern, deren Urheberrechte noch nicht abgelaufen sind? Eine berechtigte Frage. Google hat dieses Problem unterschätzt. Man wird es nur lösen können, wenn man sich von Anfang mit Autoren und Verlagen zusammensetzt und gemeinsam überlegt. Die Verlage sind ja nicht egoistisch. Sie sind langfristig verantwortlich für das Überleben der Literatur. Zwischen zwei genialen Büchern, zwei genialen Gemälden muss der Künstler eine Suppe kriegen. Die muss bezahlt werden. Vieles, was umsonst erscheint, wird ja auch bezahlt. Wir bezahlen Google als Konsumenten über die Werbung. Ich ziehe es vor, solche Dienste über meine Steuern oder eine Art Mediengebühr zu bezahlen. Wird mit der virtuellen Bibliothek ein Menschheitstraum verwirklicht oder handelt es sich letztlich um einen Albtraum, wie ihn Jorge Lufs Borges mit der unendlichen Bibliothek beschrieb, in der man sich wie in einem Labyrinth verirrt und nichts findet? Das ist unser Kampf, deswegen muss sich Europa einmischen, weil es eben nicht nur darum gehen kann, die Bücher zur Verfügung zu stellen, sondern sie aufgrund einer jahrhundertelangen Erfahrung zu organisieren und zu hieraichisieren. Wir dürfen nicht, wie Cyrano de Bergerac es ausdrückt, die Wörter in Büscheln hinwerfen, so wie sie gerade kommen. Wir müssen Sträuße daraus binden. Ansonsten gehen wir in diesem Ozean aus Wörtern unter. Und anstatt den Zugang zur Kultur zu erleichtern, würde wir ihn für die meisten nur erschweren."
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