Search (1 results, page 1 of 1)

  • × author_ss:"Tetens, H."
  • × theme_ss:"Information"
  • × type_ss:"a"
  1. Tetens, H.: ¬Der neuronal gläserne Mensch : Hochkomplexes und hypersensitives System: Im Gehirn selbst könnten die Befürworter der Willensfreiheit einen unerwarteten Verbündeten finden (2004) 0.02
    0.020433247 = product of:
      0.102166235 = sum of:
        0.102166235 = weight(_text_:naturwissenschaften in 36) [ClassicSimilarity], result of:
          0.102166235 = score(doc=36,freq=16.0), product of:
            0.2552727 = queryWeight, product of:
              6.4035826 = idf(docFreq=198, maxDocs=44218)
              0.03986404 = queryNorm
            0.4002239 = fieldWeight in 36, product of:
              4.0 = tf(freq=16.0), with freq of:
                16.0 = termFreq=16.0
              6.4035826 = idf(docFreq=198, maxDocs=44218)
              0.015625 = fieldNorm(doc=36)
      0.2 = coord(1/5)
    
    Content
    "Es geht "ans Eingemachte". Mit diesen Worten kommentiert der Physiker und Philosoph Gerhard Vollmer, was er für eine ausgemachte Sache hält: "Bald werden nicht nur, die Hirnforscher einsehen müssen, dass es die traditionelle Willensfreiheit überhaupt nicht gibt.« Mit der gegenwärtigen Debatte zwischen Naturwissenschaftlern und Philosophen über das Ende unseres traditionellen Menschenbildes im allgemeinen und unserer Vorstellung vom freien Willen im besonderen kommt allmählich auch in einer breiteren Öffentlichkeit an, was der Philosoph Immanuel Kant bewundernswert hellsichtig bereits vor über 200 Jahren mit den experimentellen Naturwissenschaften heraufkommen sah: Die Wissenschaften zeichnen ein Bild vom Menschen, welches das traditionelle Bild von uns selbst als vernünftige und selbstverantwortliche Personen tendenziell zu ruinieren droht. Weitsichtig war dies von Kant deshalb gedacht, weil sich die experimentellen Naturwissenschaften zu seiner Zeit weitgehend auf die Analyse der unbelebten nichtmenschlichen Natur beschränkten und jedenfalls um den Menschen selber noch einen großen Bogen machten. Das hat sich inzwischen gründlich geändert. Die experimentelle naturwissenschaftliche Erforschung dessen, was traditionell mit "Seele", "Bewusstsein" oder "Geist" bezeichnet wird, ist im vollen Gange. An die Spitze dieses naturwissenschaftlichen Zugriffs auf das Wichtigste am Menschen hat sich die Hirnforschung gesetzt: Alles, was Menschen tun, bewusst erleben, denken und wollen, ist samt und sonders gehirnproduziert, lautet der harte Kern ihrer Botschaft.
    Die Botschaft der Hirnforscher ist so unerwartet freilich nicht. Die Naturwissenschaften sind experimentelle Wissenschaften. Jedes naturwissenschaftliche Experiment liefert den Prototyp einer Apparatur, mit der Wissenschaftler die Phänomene, die sie untersuchen, kontrolliert hervorrufen und verändern können. Als es den Physikern gelungen war, den Regenbogen zu erklären, hatten sie zugleich mit einer Lichtquelle, einem Prisma und einem Auffangschirm eine Vorrichtung erfunden, um das Sonnenlicht in seine Spektralfarben zu zerlegen und auf diese Weise einen künstlichen Regenbogen im Labor zu erzeugen. Ein Phänomen naturwissenschaftlich erklären zu können, heißt zu wissen, was man tun muss oder im Prinzip tun müsste, um dieses Phänomen oder ein vergleichbares technisch zu erzeugen und zu manipulieren. Wo die naturwissenschaftliche Erforschung des Menschen erfolgreich ist, weiß man dann, wie man tatsächlich, zumindest aber im Prinzip menschliche Eigenschaften und Leistungen auf einer Maschine nachbilden kann. Den Menschen naturwissenschaftlich zu erforschen, läuft auf die Gleichung hinaus: Mensch = Maschine. Sie ist eine methodologische Konsequenz der Naturwissenschaften. - Entzauberung des Menschen - Als Forschungsobjekt empirischer experimenteller Wissenschaften kann der Mensch nicht als das freie Vernunftwesen erscheinen, als das er sich selber gerne sieht. Für Kant lag das so klar auf der Hand, dass er in seiner theoretischen wie praktischen Philosophie ein umfassend angelegtes Programm verfolgte zur Rettung unseres Personseins angesichts der wissenschaftlichen Sicht auf den Menschen, ohne deshalb die Resultate der Naturwissenschaften in Abrede stellen zu müssen. Was bei Kant bei aller Bewunderung für die Naturwissenschaften entschiedene philosophische Gegenwehr auf den Plan rief, läuft heute für den Hirnforscher Gerhard Roth in provokanter "Wertfreiheit" auf die "Entthronung des Menschen als frei denkendes Wesen" hinaus. Es ist auffällig, wie sehr sich die gegenwärtige Debatte um eine sehr unangenehme Wahrheit herumdrückt: Die konsequente Anwendung der Naturwissenschaften auf den Menschen zielt auf den neuronal gläsernen Menschen, bei dem alles, was er tut, empfindet, denkt und will, für den äußeren Beobachter offen zu Tage liegt, kausal aus neuronalen Mechanismen erklärt, vorhergesagt und jederzeit durch neuronale Intervention manipuliert werden kann. Anders als bei der nicht-menschlichen Natur können wir dieses Zielkaum als regulatives Ideal gutheißen, dem sich die Forschung immer weiter annähern sollte. Sollte dieses Ziel einmal in vollem Umfang Realität werden, so wäre dies eine moralische und kulturelle Katastrophe. Die naturwissenschaftliche Erforschung des Menschen ist nur so lange moralisch und kulturell akzeptabel, wie die Wissenschaften weit hinter dem methodologischen Endziel des entzauberten Menschen als neuronal gläserner Maschine zurückbleiben. Das Dilemma dieses Befundes ist offenkundig: Wir müssten es hinbekommen, durch naturwissenschaftliche Forschung Alzheimerpatienten oder Unfallopfern mit Hirntraumata wirksam zu helfen, ohne gleichzeitig den Menschen neuronal zu entzaubern.
    Viele Philosophen meinen, die experimentellen Methoden der Naturwissenschaften erzeugten nur einen systematischen blinden Fleck für einen nichtnaturwissenschaftlichen Blick auf den Menschen. Sie halten den Hirnforschern vor, die Forschungsergebnisse könnten keineswegs den Menschen als freies Vernunftwesen dementieren. Doch sieht es meiner Einschätzung nach nicht danach aus, dass die Philosophen noch erfolgreich theoretisch beweisen werden, der Mensch sei trotz aller Befunde der Hirnforschung ein freies Vernunftwesen. Es kann nur noch darum gehen, die uns bisher vertraute alltägliche Praxis, in der wir uns wechselseitig als vernünftige und selbstverantwortliche Personen respektieren und entsprechend miteinander umgehen, so gut es eben geht zu wahren. Gewahrt werden kann diese Praxis nur, wenn unser Wissen von den neuronalen Mechanismen und unser technisches Know-how für ihre Steuerung durch technische Interventionen in das Gehirn einen gewissen Schwellenwert nicht überschreiten. Würden wir uns nämlich vollkommen in unseren neuronalen Mechanismen durchschauen, würde dieser Umgang miteinander zusammenbrechen. Doch wie ließe sich verhindern, dass unser Wissen von den neuronalen Mechanismen einen bestimmten Schwellenwert überschreitet? Natürlich könnten wir der Hirnforschung ethische Grenzen setzen, doch ob das gelingt, ist fraglich. Aber womöglich gibt es einen anderen unerwarteten Verbündeten: das Gehirn selbst. Das Gehirn ist unbestreitbar ein hochkomplexes hypersensitives System. Hypersensitive Systeme reagieren bereits auf kleinste Änderungen in bestimmten Randbedingungen oder in bestimmten Anfangszuständen mit zum Teil dramatisch unterschiedlichem Verhalten. Die Anfangsbedingungen liegen oft so dicht beieinander, dass es unmöglich ist, diese Unterschiede noch zu messen. Trotzdem entwickeln sich Systeme aus diesen nur minimal verschiedenen Ausgangsbedingungen schon nach kurzer Zeit weit auseinander. Wenn wir die Randund Anfangsbedingungen nicht genau genug messen können, können wir das Systemverhalten langfristig nicht zuverlässig vorhersagen. Diese Systeme lassen sich nicht etwa deshalb nicht voraussagen, weil sie keinen deterministischen Gesetzen gehorchten. Das Gegenteil ist der Fall. Oftmals kennen die Wissenschaftler sogar die exakten mathematischen Gleichungen für die Dynamik solcher Systeme. Trotzdem ist es unmöglich, das Systemverhalten zuverlässig und gar langfristig vorherzusagen. Der Hirnforscher Wolf Singer spricht in Bezug auf die Dynamik neuronaler Wechselwirkungen selbst von einer neuen "Bescheidenheit".