Walther, R.: Stoff für den Salon (2005)
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- Content
- Diese Verhältnisse durchbrach Brockhaus mit einer schlichten Rechnung: Von 100 Millionen deutschsprachigen Europäern sind 75 Millionen Frauen und Kinder, die entfielen ihm zufolge als Käufer. Von den restlichen 25 Millionen sollte jeder 25. - also die Bildungs- und Besitzbürger - ein Konversationslexikon kaufen. Diesen Markt wollte er erobern. Drei Jahre nach dem Kauf des "Conversationslexikons" verlegte Brockhaus sein Geschäft nach Altenburg, wo er die Konversationslexika druckte und vertrieb. Aus den zunächst sechs Bänden wurden schnell zehn. Bereits von der 5. Auflage (1818/20) verkaufte Brockhaus 32.000 Exemplare. Der Erfolg des neuen Informationsmediums rief Konkurrenten auf den Plan: 1822 brachten Johann Friedrich Pierer und sein Sohn Heinrich August das "Encyclopädische Wörterbuch der Wissenschaften und Künste" heraus, das im 19. Jahrhundert sieben Auflagen schaffte und dann vom Markt verschwand. Zu einem schärferen Konkurrenten wurden Joseph Meyer und Hermann Julius Meyer, deren "Großes Conversationslexikon für die gebildeten Stände" mit 46 Bänden und 6 Ergänzungsbänden (1839-1852) das umfangreichste Werk bildet, von dem 200.000 Exemplare verkauft wurden. Bartholomä Herder schließlich war der dritte und kleinste Mitbewerber auf dem lukrativen Lexikonmarkt. Die Konversationslexika sind aber auch die Folge eines konzeptionellen Scheiterns und einer Revolution des Wissens. Im sprichwörtlich enzyklopädischen 18. Jahrhundert wollte man das gesamte Wissen zusammenfassen. Aus diesem Geist umfassender Aufklärung entstanden die großen Enzyklopädien oder Universallexika. Johann Heinrich Zedler benötigte 22 Jahre (1732-1754) für die 68 Bände des "Großen vollständigen Universallexikons aller Wissenschaften und Künste": Denis Diderot und Jean Le Rond d'Alembert brachten die 35 Bände der "Enyclopédie ou dictionnaire raisonnédes sciences; des arts et des métiers" (1751-1780) in 29 Jahren heraus, wobei der wichtigste Mitarbeiter meistens ungenannt blieb: Chevalier Louis de Jaucourt (1704-1780), von dem man fast nichts weiß und von dem kein Bild existiert, schrieb in den Bänden 3 bis 17 nachweislich 28 Prozent der Artikel, in den letzten Bänden rund 40 Prozent.
Nach dem Zweiten Weltkrieg sind aus den Wissen popularisierenden Konversationslexika wissenschaftlich fundierte Nachschlagewerke geworden, die mehr Enzyklopädien des 18. Jahrhunderts gleichen als den ersten Konversationslexika. Der "Brockhaus" hat dem Kriterium der Aktualität immer große Bedeutung eingeräumt. Aber noch die Erarbeitung der 19. Auflage dauerte volle acht Jahre, von 1986 bis 1994. Für die 20. Auflage wurden erstmals Computer und Datenbanken eingesetzt, was die Bearbeitungszeit auf dreieinhalb Jahre verkürzte. Die im Herbst 20o5 erscheinende 21. Auflage wird 30 Bände umfassen und in der Rekordzeit von einem Jahr hergestellt. Wissen vermehrt und verändert sich immer schneller. Die Arbeit am Wissen der Gegenwart gleicht deshalb einer permanenten Baustelle. Die Erfassung des Wissenswandels verlangt Antworten auf heikle Gewichtungs- und Wer tungsfragen. Natürlich will ein heutiger Benützer wissen, was eine "CD-ROM" oder ein "Carver-Ski" ist. Andererseits kann ein Lexikon unmöglich, alle technischen Neuerungen registrieren. Das Lexikon muss aus der Masse des täglich neuentstehenden Wissens das Wichtige auswählen, benutzerfreundlich ordnen und das veraltete Wissen so eliminieren, dass keine kulturellen Brüche entstehen. Auch die Spuren der Erinnerung an wissenschaftliche Irrtümer und Sackgassen dürfen nicht völlig gelöscht werden. Noch vor fünf Jahren erklärte Dieter E. Zimmer, "gedruckte Enzyklopädien haben ausgedient" (Zeit vom 10.2.2000) und setzte auf elektronische Lexika, die sozusagen stündlich aktualisiert werden könnten. Wie auf anderen Gebieten hat sich auch bei den Lexika die Cyber-Euphorie überlebt. Die berühmte"Encyclopaedia Britannica" wollte 1999 den Druck des Werks einstellen, erschien aber nach einem kurzen Auftritt im Internet aktualisiert doch wieder gedruckt in 32 Bänden (2002/03). Brockhaus wird die papierene Version des Lexikons nicht ersetzen, sondern durch medienspezifische neue Features auf DVD und Onlineportale ergänzen. Aber auch hier ist man vorsichtig geworden, denn alle Onlinedienste haben die "hohen betriebswirtschaftlichen Erwartungen (...) bis heute nicht erfüllt" (schreibt Thomas Keiderling in der Firmengeschichte). Momentan erscheint der Trend für Nachschlagewerke im Internet eher rückläufig, weil die Finanzierung des Angebots durch Werbung nicht funktioniert. Die Befürch-tung, den gedruckten Konversationslexika könnten es im neuen Jahrhundert untergehen, so wie sie Universalenzyklopädien Ende des 18. Jahrhunderts verdrängten, ist nicht akut."
- Date
- 10. 8.2005 15:24:22