Charlier, M.: ¬Die Austreibung des Mittelalters : Von der Wissensgemeinde zum geistigen Eigentum und zurück: Forscher wehren sich gegen die Macht der Verlage (2002)
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- "Das finstere Mittelalter überliefert uns befremdliche Bilder von Bibliotheken: Da sind die Folianten an den Pulten angekettet, damit niemand eines der wertvollen Stücke davonträgt. Wohl auch, damit keiner sich mit dem gefährlichen Gut Wissen außerhalb von Aufsicht und Disziplin der Fakultäten zu schaffen machte. Heute findet das Mittelalter in der Deutschen Bibliothek in Frankfurt am Main und Leipzig statt. Wer die als Belegexemplare eingelieferten digitalen Publikationen einsehen will, kann das weder vom privaten Internetanschluss aus noch von dem eines Instituts oder einer Universitätsbibliothek. Forscher müssen nach Frankfurt reisen und einen Leihschein ausfüllen, um dann dort am Terminal die digital angeketteten Veröffentlichungen einsehen zu können. Die Bibliothek ist dafür am wenigsten zu schelten. Da der Gesetzgeber es versäumt hat, die rechtlichen Vorschriften der technischen Entwicklung des Buchwesens anzupassen, sind die Verlage nicht verpflichtet, digitale Publikationen abzuliefern. Die Bibliothekare haben in langwierigen Verhandlungen wenigstens erreicht, dass die Verlage die Bücher freiwillig einreichen - zu ihren Bedingungen. Nicht nur digitale Publikationen hängen an der Kette der Verlage. Spektakulär ist die Entwicklung bei den wissenschaftlichen Zeitschriften. Teuer waren sie schon immer. Nicht ohne Grund, denn ihre Herstellung verlangt hohen Aufwand: Fachlich kompetente redaktionelle Betreuung, aufwendiger Druck (Sonderschriften, IIlustrationen) in oft kleinen Auflagen, Versand in viele Länder der Erde und dann auch noch Lagerhaltung für lange Zeit. In den vergangenen zehn Jahren haben sich die Preise für solche Spezialzeitschriften im Durchschnitt verdreifacht - sie liegen heute zwischen 5.000 und 20.000 USDollar für das Jahresabonnement. Gleichzeitig hat sich die Zahl der relevanten Publikationen etwa verdreifacht. Für eine solide geführte Bibliothek lässt sich daraus eine Verzehnfachung des für die Anschaffung erforderlichen Budgets errechnen. Doch die Etats stagnieren, und in den Regalen breiten sich Lücken aus. Bibliothekare sprechen von einer "Journal-Crisis". Viele Wissenschaftler hat die Entwicklung kalt erwischt. Sie betrachten wissenschaftliche Ergebnisse oft nicht als Waren mit einem Preisschild, sondern als Tauschobjekte in einer Geschenkökonomie: Alle können verwenden, was andere als Baustein zum gemeinsamen Werk beitragen, solange die Anstandsregeln des sauberen Zitierens und der Anerkennung von Prioritäten eingehalten werden. Damit ist es vorbei, seit man weniger von der Wissen- schaftsgemeinschaft, der "Scientific Community" spricht - und mehr von "Intellectual Property", dem geistigen Eigentum: Erkenntnisse sollen unmittelbar is die Produktion übergeführt und zur konsequenten Verwertung patentiert werden.
Wissenschaftliche Zeitschriften waren früher oft Herzensangelegenheit oder zumindest Prestigeobjekte engagierter Verleger, die zur Not auch mal eine Zeit lang draufzahlten, um einen Titel über die Runden zu bringen. Nach einem mehrjährigen Konzentrationsprozess werden nun fast alle diese Zeitschriften von wenigen international agierenden Großverlagen herausgebracht, die mit ihnen Profitmaximierungsstrategien verfolgen. Das Geschäftsmodell ist simpel: Die Produktion des Wissens erfolgt an Universitäten und Instituten mit staatlichen oder aus der Wirtschaft eingeworbenen Mitteln - also für die Verlage kostenlos. Viele Wissenschaftler sind sogar bereit, "Druckkostenzuschüsse" aufzutreiben, nur damit ihre Arbeitsergebnisse aufs Papier kommen. Die Eigenleistung der Verlage ist da, wo die Autoren ihre Texte auf Diskette einliefern und der Druck aus dem Computer kommt, kaum der Rede wert. Der Gewinn, der sich so erzielen lässt, umso mehr. Margen von 40 Prozent seien nicht selten, sagen Branchenkenner. So wären die wissenschaftlichen Zeitschriften ein perfektes Instrument zum Abgreifen von Staatsknete - gäbe es nicht das Internet. Vielen Wissenschaftlern dauert es zu lange, bis die Verlage ihre Texte in einer vielleicht nur quartalsweise erscheinenden Publikation an die Kollegen bringen. Sie laden daher ihre Manuskripte auf so genannte Preprint-Server, um sie unmittelbar in die wissenschaftliche Diskussion einzubringen: Einer der größeren davon, der Los Alamos Physics Information Service mit der schönen Adresse xxx.lanl.gov, erhält täglich um die hundert Preprints, während seine Datenbank - ebenfalls täglich - mehr als 50.000 Zugriffe verzeichnet. Inzwischen hat sich ein - stellenweise noch etwas chaotisches - Netz solcher Server etabliert, das nahezu alle naturwissenschaftlichen Bereiche abdeckt. Die Gesellschaftswissenschaften ziehen, wenn auch etwas zögerlich, nach. Viele Wissenschaftler veröffentlichen ihre Texte inzwischen auf eigenen Homepages. Seit einigen Jahren schließlich entstehen echte Netzpublikationen: "Electronic Journals" legen Texte in abgeschlossener Form und auf Dauer ab; eine Veröffentlichung auf Papier ist nicht vorgesehen. Damit stehen die Wissenschaftsverlage, die sich bis eben noch im Besitz einer Gelddruckmaschine geglaubt hatten, plötzlich da wie die Heizer auf der E-Lok unseligen Angedenkens: Keiner braucht sie mehr. Die in die Defensive geratenen Verlage verweisen darauf; ihre Redaktionen organisierten in einem teils tatsächlich aufwendigen Verfahren Peer-Reviews: In den guten Blättern erscheint kein Beitrag, der nicht von mehreren anerkannten Fachkennern gegengelesen und oft auch auf Grund ihrer Hinweise umgearbeitet worden ist. Das überzeugt nur begrenzt. Auch den anerkannten Fachleuten sind in den vergangenen Jahren ziemlich viele bewusste Fälschungen durch die Lappen gegangen. Außerdem halten sich hartnäckig Gerüchte, dass um einige Zeitschriften Zitierkartelle und fragwürdige Strukturen entstanden sind, die ganz andere als Gesichtspunkte der Qualität zur Geltung bringen. Viel überzeugender ist: Was im Internet steht, setzt sich von Anfang an der Kritik sämtlicher Fachleute aus. Wenn jemand starke Thesen mit schwacher Begründung vorträgt, wird das im Netz schneller entdeckt und korrigiert als in der Welt periodischer Papier-Veröffentlichungen. Peer-Reviews und Versionsverwaltung lassen sich im Internet genauso gut organisieren wie mit Zeitschriften - und billiger zudem.