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  • × author_ss:"Merkel, G."
  • × author_ss:"Roth, G."
  1. Roth, G.; Merkel, G.: Haltet den Richter! : Schuld und Strafe (2010) 0.01
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    Content
    Dieser Paragraph belegt deshalb im Umkehrschluss, dass das Strafrecht für die Schuldfähigkeit die Möglichkeit zum Andershandelnkönnen in der konkreten Tatsituation und damit Willensfreiheit in einem "starken" Sinne voraussetzt. Im Gegensatz zu vielen Strafrechtstheoretikern, die für den Schuldvorwurf weniger verlangen, hat das Bundesverfassungsgericht mehrfach klargestellt, dass nur ein strafrechtlicher Vorwurf im Sinne eines begründeten ethischen Vorwurfs den Vergeltungszweck der Strafe legitimieren könne: "Andernfalls wäre die Strafe eine mit dem Rechtsstaatsprinzip unvereinbare Vergeltung für einen Vorgang, den der Betroffene nicht zu verantworten hat." Dass der Täter auch einen anderen handlungswirksamen Willen hätte bilden können, dafür hat aber bisher keine Wissenschaft irgendeinen empirischen Beweis, ja auch nur ein plausibles Indiz liefern können. Selbst Immanuel Kant, einer der geistigen Väter der Idee eines freien Willens, hat nachdrücklich betont, dass der Alternativismus bzw. eine "von selbst beginnende Kausalkette" empirisch niemals festzustellen sei. Daraus ergibt sich, dass das geltende Strafrecht auf einem Konzept ohne empirisches Fundament beruht. Artikel 6 Absatz 2 der Europäischen Menschenrechtskonvention fordert aber den positiven Nachweis der Schuld, nicht etwa umgekehrt nur der Schuldunfähigkeit, wie es § 20 StGB tut. Daran offenbart sich ein Legitimationsdefizit des Strafrechts. Das ist aber ganz offensichtlich keine Erkenntnis der Neurowissenschaften, sondern Folge einer metaphysischen Freiheitsannahme, die mit dem heutigen Verständnis von Objektivität und Überprüfbarkeit des Strafrechts kaum mehr vereinbar erscheint. Die Neurowissenschaften knüpfen genau dort an, wo die Hirnforschung schon seit langem von den Strafrichtern zu Rate gezogen wird: Bei psychischen Defekten von Tätern, wie sie von den §§ 20 und 21 StGB vorausgesetzt werden. Gerade die Tatsache, dass viele Straftäter zwar über Einsichtsfähigkeit verfügen, ihr Handeln aber aus hirnorganischen oder psychischen Gründen nicht daran ausrichten, hat die psychologische und neurowissenschaftliche Forschung der letzten Jahre intensiv beschäftigt. Die Forschung hier zurückzuweisen, hieße an einen 200 Jahre zurückliegenden Zustand anzuknüpfen, als Strafrichter noch allein und ohne sachverständigen Rat über das Vorliegen eines geistigen Defekts befanden.
    Es ist aus heutiger Sicht bei der Schuldfrage wie auch sonst im Strafrecht aber inakzeptabel, nach Belieben mit der Empirie umzugehen (forensische Psychiater können bei ihrer gutachterlichen Tätigkeit ein Lied davon singen!) und sich, wenn sie der richterlichen Intuition widerspricht, auf die normative "Entscheidungshoheit" zurückzuziehen. Das, worüber entschieden wird, muss auch wissenschaftlich konsensfähig sein, um gesellschaftliche Akzeptanz zu finden. Was also meint Hassemer, wenn er von einem Kategorienfehler spricht? Er ist der Auffassung, aus den empirischen Erkenntnissen der Hirnforschung würden unzulässigerweise Schlüsse für die normativen Bedingungen des Strafrechts abgeleitet. Natürlich können die Erkenntnisse der Neurowissenschaft nicht die Grenzen strafrechtlicher Zurechnung ziehen; das ist trivial. Aber sie können die sachlichen Gründe dieser Grenzziehung dort untersuchen, wo die Tür für die empirische Forschung schon einmal offen steht. Findet die Forschung also Hirnaktivitäten, die sich geistig-psychischen Erkrankungen im Sinne der §§ 20 und 21 StGB zuordnen lassen, so sind diese Erkenntnisse natürlich mit Blick auf das Willkürverbot (Artikel 3 Absatz 1 des Grundgesetzes) und den Grundsatz "im Zweifel für den Angeklagten" zu berücksichtigen. Auch die frühe Prägung des Gehirns durch soziale Interaktion besagt aus der Retrospektive etwas über kausale Zusammenhänge. Deren Ausblenden seitens des Strafrechts erscheint höchst unangemessen und ist wegen Artikel 2 Absatz 1 des Grundgesetzes jedenfalls begründungspflichtig. Das alles folgt unmittelbar aus dem Recht, insbesondere dem Verfassungsrecht, und allenfalls mittelbar aus den Erkenntnissen der Neurowissenschaft. Im Übrigen manifestiert sich der Grundsatz der Menschenwürde auch nicht, wie Hassemer behauptet, im Prinzip der (strafrechtlichen) Zurechnung. Artikel 1 des Grundgesetzes steht seit seinem Inkrafttreten 1949 vielmehr in einem rechtlichen Spannungsverhältnis zum wesentlich älteren Schuldprinzip.
    Footnote
    Erwiderung auf: Hassemer, W.: Haltet den geborenen Dieb! In:FAZ vom 15.06.2010. Vgl. die Erwiderung: Walter, M.: Unzulässige Überinterpretation: Schuld und Strafe. In: Frankfurter Rundschau. Nr.xxx vom 05.07.2010, S.xx. Vgl. auch: Janich, P.: Stillschweigende Hirngespinste: Die FR-Debatte zur Willensfreiheit. In: Frankfurter Rundschau. Nr.158 vom 12.07.2010, S.20-21. Lüderssen, K.: Wer determiniert die Hirnforscher?: Was ist Willensfreiheit (4). [Interview]. In: Frankfurter Rundschau. Nr.164 vom 19.07.2010, S.20-21. Pauen, M.: Das Schuldprinzip antasten, ohne es abzuschaffen: Was ist Willensfreiheit (5) oder: Wer ist verantwortlich für die Abschaffung von Verantwortung?. In: Frankfurter Rundschau. Nr.170 vom 26.07.2010, S.22-23. Vgl.: http://www.fr-online.de/in_und_ausland/kultur_und_medien/themen/?em_cnt=2788472&em_loc=3643.